Die Digitalisierung verändert Wirtschaft und Arbeitsgesellschaft grundlegend. Prof. Dr. Judith Simon von der Universität Hamburg beschäftigt sich mit den ethischen Fragestellungen, die sich aus diesem Wandel ergeben. In einem Gastbeitrag für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zeigt sie auf, wie Unternehmen ein verantwortungsvoller Umgang mit Technologien gelingt.
Eine Feststellung vorab: Technologische Innovationen in der Arbeitswelt bieten zweifellos Vorteile – und das aus ganz verschiedenen Perspektiven: So können zum Beispiel Arbeitgeber*innen durch datenbasiertes Kundenmarketing ihre Verkaufszahlen erhöhen, im Recruiting versprechen digitale Tools, die Auswahl von Bewerber*innen zu vereinfachen und Kund*innen von Paketzusteller*innen können bequem online kontrollieren, wann ihr Paket zuhause eintrifft. Und das sind nur einige wenige Beispiele. Digitale Innovationen haben also das Potenzial, Arbeitsprozesse effizienter, objektiver und komfortabler zu gestalten. Doch hier ist Vorsicht geboten, denn diese Technologien sind weder unproblematisch noch folgenlos – Unternehmen besitzen daher die Verantwortung, diese so zu entwickeln, dass sie keine Nachteile für Dritte bergen. Dazu ist es sinnvoll, den Begriff der Verantwortung besser zu verstehen.
Grundsätzlich hat unternehmerische Verantwortung eine rückwärts- und eine vorwärtsgewandte Dimension. Das heißt, Unternehmen müssen Verantwortung übernehmen für ihr früheres Handeln oder auch Unterlassen. Gleichzeitig müssen sie Verantwortung übernehmen für den zukünftigen Wandel, etwa indem sie sich für bessere Arbeitsbedingungen und Antidiskriminierung einsetzen. Hinsichtlich der Digitalisierung bedeutet das, Antworten auf diese Fragen zu finden: Verbessern digitale Tools tatsächlich die Arbeitsbedingungen für Beschäftigte? Verhindern sie Diskriminierung oder schaffen sie eventuell neue? Und wie steht es um die Privatsphäre?
Die eingangs genannten Beispiele zeigen, wie ebenjene Verantwortung zunehmend auf die Probe gestellt wird – sei es beim Einsatz von Software zur Unterstützung der Personalauswahl, beim digitalen Tracking von Paketzusteller*innen oder bei der Nutzung von Kund*innendaten für Profiling und Werbung. Unternehmen sollten deswegen gewährleisten, dass die von ihnen genutzten Tools in doppelter Hinsicht gut sind: technisch und moralisch. Technisch gut bedeutet, dass die Tools von hoher Qualität sind, d.h. beispielsweise dass sie genau, zuverlässig und sicher sind. Moralisch gut bedeutet, dass Absicht und Folgen für alle direkt und indirekt Betroffenen positiv sind und Unternehmen verschiedene Risiken und Chancen angemessen abwägen.
Eine Software zur Personalauswahl sollte demnach nur relevante Merkmale von Menschen berücksichtigen und eben nicht diskriminieren. Beim Tracking von Mitarbeitenden, zum Beispiel bei Paketzusteller*innen, muss zwischen dem Nutzen für das Unternehmen sowie der Privatsphäre der Beschäftigten abgewogen werden: Rechtfertigt der Vorteil der Nachvollziehbarkeit für die Kund*innen die Überwachung der Fahrer*innen? Und bei der Nutzung von Kundendaten für das Profiling, also der automatisierten Verarbeitung personenbezogener Daten, stellt sich Frage: Sollen hochsensible Daten wirklich weitergegeben werden für mögliche höhere Verkaufszahlen?
Der Umgang mit Zielkonflikten oder: Wem gegenüber sind Unternehmen verantwortlich?
Alle drei Beispiele verdeutlichen, dass unternehmerische Verantwortung durch zahlreiche Zielkonflikte gekennzeichnet ist: Auf der einen Seite müssen Unternehmen gegenüber ihren Kund*innen stets eine hohe Service- oder Produktqualität bieten. Gleichzeitig sind sie gegenüber ihren Beschäftigten verantwortlich, Arbeitssicherheit, gute Arbeitsbedingungen und wirtschaftliche Stabilität zu gewährleisten. Hinzu kommt die Verantwortung für die wirtschaftliche Stabilität und Rendite gegenüber ihren Stakeholdern. Darüber hinaus existieren auch gesellschaftliche Erwartungen an Unternehmen, Regeln und Standards einzuhalten und einen Beitrag für eine nachhaltige und gerechte Gesellschaft zu leisten.
Es gilt also, sich diese Zielkonflikte bewusst zu machen und dafür konkrete Lösungen zu entwickeln, die allen Erwartungen möglichst gleichermaßen gerecht werden. Wenn diese Konflikte fair und transparent adressiert werden, dann bieten sich große Chancen für Unternehmen, Mitarbeiter*innen, Kund*innen, und für die Gesellschaft.
Ethik findet nicht in Ethikboards statt, sondern in der Vielzahl alltäglicher Entscheidungen
Doch wie kann es konkret gelingen? Basis ist die Etablierung ethischen Handelns in der unternehmerischen Praxis. Das bedeutet: Unternehmen müssen in ihrem eigenen Kerngeschäft, in ihren internen Prozessen verantwortlich und ethisch handeln, auch über das rechtlich Gebotene hinaus. Das heißt aber auch: Ethik lässt sich nicht outsourcen, etwa in Ethikboards. Denn solche Selbstverpflichtungen im Allgemeinen und Ethikboards im Besonderen haben oft eine ablenkende Wirkung: Sie delegieren ethisches Handeln lediglich an Expert*innen und führen selten zu verbindlichen Beschlüssen. Damit verschwindet die Verpflichtung zum ethischen Abwägen aus dem alltäglichen Handeln und der Verantwortung jeder bzw. jedes Einzelnen. Im schlimmsten Fall werden diese Gremien als Feigenblatt genutzt, um eine strengere Regulierung zu vermeiden oder Recht zu umgehen. Digitale Ethik darf nicht zur Abwehr rechtlicher Regulierung oder politischer Aushandlung missbraucht werden.
Hinzu kommt: Ethisch zu handeln und Verantwortung zu übernehmen, erfordert Dialog und Transparenz. Verschiedenste Akteur*innen müssen bei Entscheidungen über die Entwicklung oder den Einsatz digitaler Technologien einbezogen werden. Dabei gilt: Mitarbeiter*innen sollten grundsätzlich beteiligt werden – und das letzte Wort sollten diejenigen haben, die vom Einsatz der Technologie potenziell am negativsten betroffen sind.
Zusammenfassend lässt sich daher festhalten: Ethik beschäftigt sich mit dem Guten und dem Bösem, dem Richtigen und dem Falschem. Mit dem, was wir tun dürfen, sollen oder müssen oder was wir eben nicht tun dürfen, sollen oder müssen – und den Gründen dafür. Ethik findet daher im Kleinen statt – in jeder Handlung, in allem, was wir tun oder unterlassen. Das gilt für uns alle – in all unseren Rollen als Kund*innen und Bürger*innen, als Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen.
Verantwortung geht aber immer auch einher mit Macht – und die größte Verantwortung tragen entsprechend immer jene mit der meisten Macht.
Zur Person
Judith Simon ist Professorin für Ethik in der Informationstechnologie an der Universität Hamburg und hat zuvor in Berlin, Wien, Ljubljana, Stanford, Paris, Trento, Barcelona, Karlsruhe und Kopenhagen zu Themen aus Philosophie, Wissenschaftstheorie und Technikfolgenabschätzung geforscht. Sie beschäftigt sich mit der Verschränkung ethischer, erkenntnistheoretischer und politischer Fragen im Kontext von Big Data, Künstlicher Intelligenz und Digitalisierung im Allgemeinen.
Judith Simon ist u.a. Mitglied des Deutschen Ethikrates und der Wissenschaftlichen Kommission "Digitalisierte Gesellschaft" der Leopoldina.
Die Inhalte dieses Beitrags basieren auf der Keynote von Prof. Dr. Judith Simon beim 2. CSR-Netzwerktreffen am 13. April 2021. Hier können Sie sich den Vortrag noch einmal ansehen.